Türkei 2017. Diktatur ante portas

Drei Erkenntnisse des Abends:
„Evet“ (ja) – oder „Hayir“ (nein). Um diese zwei Wörter dreht sich im Moment alles. Und zwar nicht nur in der Türkei. Auch in Deutschland geraten das türkische Referendum am 16. April und der aktuell stattfindende Wahlkampf zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Spätestens seit der Flörsheimer Journalist Deniz Yücel verhaftet und von Erdogan noch vor dem Gerichtsverfahren als „deutscher Agent“ betitelt wurde, erleben die deutsch-türkischen Beziehungen eine ihrer härtesten Belastungsproben. Grund genug für die Montagsgesellschaft, sich diesem hochaktuellen Thema ausführlicher zu widmen. Was passiert da momentan in der Türkei? Wie wird es weitergehen? Und: Was hat das mit uns zu tun? Es folgt der Versuch einer kurzen Zusammenfassung: Unsere „Drei Erkenntnisse des Abends“.
Erkenntnis #1: In der Türkei herrscht der Ausnahmezustand!
In der Türkei existiert momentan vielerorts eine Mischung aus Angst und einem kleinen Rest Hoffnung. Von einem fairen Wahlkampf kann keine Rede sein: Die „Ja“-Kampagne Erdogans ist omnipräsent – fast alle Medien werden mittlerweile von ihm kontrolliert. Selbst kritische Stimmen in Erdogans AKP-Partei äußern sich wenn überhaupt nur noch „off the record“. Auf der anderen Seite wird die „Nein“-Kampagne der Opposition blockiert, wo es nur geht: Journalisten werden verhaftet; Auftritte und Kundgebungen werden verboten. Die Menschen haben Angst davor, sich öffentlich zu positionieren: Sie fürchten die harten Konsequenzen. Die Gefahr einer „inneren“ Zensur der verbliebenen freien Journalisten ist dementsprechend hoch. Trotz allem ist die Nein-Kampagne mutig und kreativ – viele Türken kämpfen für ihre Freiheit und den Erhalt der Demokratie. Alles in allem herrscht im Land jedoch eine extrem große Anspannung und Instabilität: Die Menschen wünschen sich den 16. April herbei.
Erkenntnis #2: Der 16. April wird zum Entscheidungstag über die Zukunft der Türkei!
Bei einem Sieg Erdogans wird sich die Türkei aus einer imperfekten Demokratie endgültig in eine perfekte Autokratie verwandeln. Erdogan würde im neuen Präsidialsystem zum Schiedsrichter, Trainer und Spieler in Personalunion – die Gewaltenteilung würde faktisch abgeschafft. Was dann passiert, ist ungewiss. Eine Möglichkeit wäre der Beginn eines langsamen Staatszerfalls: Dass nämlich eine so heterogene Gesellschaft wie die türkische auf Dauer einen Diktator akzeptiert, der über alle herrscht, scheint fraglich.
Ein „Nein“ wäre ein Befreiungsschlag für die Opposition und die liberalen Kräfte in der Türkei – und damit eine klare Schwächung der Position von Erdogan. Auch hier kann keiner vorhersagen, was dann passieren würde. Ob es der zerstrittenen Opposition gelingen kann, das Land wieder zu vereinen und eine konkrete Alternative zu Erdogan anzubieten, ist unsicher. So oder so: Die Entscheidung am 16. April wird weitreichende Konsequenzen haben – nicht nur für die Türkei.
Erkenntnis #3: Es geht nicht nur um die Türkei – das Thema geht uns alle an!
NATO-Partner, Flüchtlingsdeal, EU-Beitritt – es gibt viele offensichtliche Gründe, warum uns der Ausgang des türkischen Referendums auch in Deutschland interessieren muss. Weniger offensichtlich, aber deshalb nicht weniger wichtig ist noch eine andere Perspektive: Die Diskussion über die Situation in der Türkei ist auch eine Diskussion über uns! Warum fühlen sich viele Deutsche mit türkischen Wurzeln in Deutschland nicht zu Hause? Warum haben deutsche Staatsbürger mit türkischen Nachnamen immer noch Probleme, eine Mietwohnung zu finden? Wie gehen wir eigentlich mit diesen, unseren Mitbürgern um? Wer ist eigentlich „deutsch“? Wer soll dazugehören? Wir alle sollten die aktuelle Diskussion um die Türkei als Anstoß für eine selbstkritische Reflektion unserer eigenen Diskurse und Verhaltensweisen nutzen. Gleichzeitig sind wir aufgefordert, unsere Positionen und Werte klarer und selbstbewusster zu formulieren. Nicht nur für Erdogan, sondern auch und vor allem für uns selbst. Dazu gehört, sich über unterschiedliche Standpunkte und Ansichten respektvoll zu streiten. Wir müssen unsere Standpunkte immer wieder neu verhandeln und in einer gemeinsamen öffentlichen Debatte stets aktualisieren. Michel Friedman hat deshalb Recht: Wir müssen mehr streiten! Für uns selbst, für andere – und für unsere Freiheit und Demokratie.
Es diskutierten:
Prof. Dr. Dr. Michel Friedman
Publizist, Wissenschaftler, Fernsehmoderator
Dr. Burak Çopur
Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Migrationsforscher
Maximilian Popp (live aus Istanbul)
Auslandskorrespondent Türkei, DER SPIEGEL
Ozan Demircan
Zukünftiger Auslandskorrespondent Türkei, Verlagsgruppe Handelsblatt
Moderation: Baki Irmak
Mitglied der Montagsgesellschaft
Die gesamte Diskussion können Sie in voller Länge übrigens auch auf unserem Youtube-Kanal anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=md4w368Nnl8.
03. April 2017, 17:30 Uhr
GTEC Frankfurt
German Tech Entrepreneurship Center
Neue Rothofstraße 19
60313 Frankfurt am Main
